Mit 100 Jahren auch digital auf der Höhe
Aus dem Leben einer Holländerin, die durch die Liebe Deutsche wurde
Als die 20-jährige Wilhelmina auf einem Rummel im holländischen Culemborg mit ihrer Freundin in einen Autoscooter stieg, ahnte sie noch nicht, dass bei dieser Spaßfahrt die Weichen für ihr weiteres Leben gestellt werden würden. Auch nicht, als dann zwei deutsche Soldaten sie mehrmals mit ihrem Fahrzeug verfolgten und anrempelten – aus Spaß. Sie konnten sie auch nach der Fahrt nicht abhängen, und so lernte „Minchen“, wie sie gerufen wurde, ihren Fritz kennen, den sie schon 1942 heiratete.
Nun musste sich Minchen, die eigentlich Wilhelmina Henrika Marie Antonia heißt und mit Schlittschuhen, beim Turnen und Schwimmen sehr sportlich und lebenslustig unterwegs war, dem Ernst des Lebens stellen. Es passierte in diesen Kriegsjahren, dass man Mädchen und Frauen, die sich mit den deutschen Besatzern einließen, durchaus verachtete. Selbst ihre Verwandtschaft ging auf Abstand, obwohl auch ihr Vater Deutscher war und hier ein Elektrogeschäft betrieb.
Das zunehmende Kriegsgeschehen zwang die junge Mutter, inzwischen war Sohn Fritz-Werner geboren worden, Culemborg zu verlassen und in einen anderen Ort zu ziehen. Vater Fritz, der hier stationiert war, konnte nicht mit umziehen,
Im Juni 1944 entschloss sich das junge Paar, Minchen mit dem Kind nach Druxberge zu bringen, denn das war sein Heimatdorf, wo seine Eltern sie aufnahmen. Fritz musste an die Ostfront, Minchen auf den Acker. Aber in schwarzer Kleidung aufs Feld, daran konnte sie, die ein Leben in Fröhlichkeit und Farbigkeit liebte, sich nicht gewöhnen.
Bald aber kam Fritz verwundet von der Front zurück, 1947 wurde Tochter Johanna geboren, man plante Veränderungen für die Zukunft. Dazu gehörte die Rückkehr nach Holland. Die wurde auch für Minchen und die Kinder genehmigt, Vater Fritz versteckte sich unter den Kohlen auf dem Tender der Dampflok. Sie kamen auch gut an, Minchens Vater hatte schon für den Bäcker Fritz den Kauf einer Bäckerei ins Auge gefasst.
Doch schon nach wenigen Wochen packte Fritz dermaßen das Heimweh, nach Druxberge, dass die Familie wieder die Fahrt in die Börde antreten musste. Als sie dort dann auch noch in Eilsleben die Konsum-Bäckerei (vormals Zacharias) in der Bahnhofstraße übernehmen konnten, war die Freude groß.
Minchen, die in Holland eine kaufmännische Lehre in einer Zigarrenfabrik abgeschlossen hatte, reichte den Kunden über den Ladentisch nicht nur Brot, Brötchen oder „Tortschestüschen“ sondern stets Frohsinn und gute Laune kostenlos dazu. Sie qualifizierte sich dann nach zur Verkaufsstellenleiterin. 1981 gab sie dann den Schlüssel ab. Seit August 2013 ist sie Witwe.
Seit 13 Jahren lebt Wilhelmina Kühne in einer Wohngemeinschaft im Rot-Kreuz-Zentrum in Eilsleben. Tochter Hanni mit Mann Günter, die gleich gegenüber wohnen, Enkel Timo und Urenkelin Helena sind oft in Sichtweite, Hanni ist sogar täglich in der WG. Diese Besuche tun ihr immer sehr gut.
Weil sie die Geselligkeit liebt und noch hellwach im Kopf ist, hat sie dort auch keine Langeweile. Beim Kartenspiel und Bingo hat sie schon Preise gewonnen und als vor Corona das DRK das „Digitalcafé für Seniorinnen und Senioren“ eröffnete, war sie mit ihrem Tablet sofort dabei. Und das Digitale möchte sie auch heute nicht missen. Sie braucht es nicht nur zum Spielen, si liest darin auch die holländische Zeitung „Telegraaf“, im Fernsehen schaltet sie oft einen Sender von dort ein.
Der Blick dorthin ist ihr heute noch so wichtig wie damals in der DDR. Als sie füre Tochter Johanna (Hanni) eine Erklärung für die Schule unterschreiben sollte, dass bei Kühnes kein Westfernsehen geguckt wird, legte sie sich mit dem strengen Schulleiter Reinoß an: „Das unterschreibe ich nicht, das ist der einzige Sender, auf dem ich etwas über meine Heimat erfahre.“ Den Gesetzen nach ist Wilhelmina Henrika Marie Antonia Kühne durch ihre Heirat Deutsche. Heute, an ihrem Geburtstag, steht sie im DRK-Zentrum natürlich im Mittelpunkt. Ein Team von Helferinnen steht bereit, um ab 10 Uhr die Jubilarin und ihre Gäste umfassend zu betreuen. „Schon seit einigen Tagen war sie ganz schön aufgeregt“, erzählte Tochter Hanni.
Volksstimme, 01.09.2021 (Hartmut Beyer)