Sehnsucht nach der Heimat
Der 16-jährige Ukrainer Nikita aus Odessa hilft ehrenamtlich beim DRK in Wanzleben
Seit gut 3 Monaten hat der Jugendliche mit seiner Familie eine vorübergehende Heimat in Wanzleben gefunden. Praktisch sofort hat er Kontakt zum sozialen Zentrum aufgenommen, um hier ehrenamtlich tätig sein zu können. Mittlerweile haben ihn alle Mitarbeiter in ihr Herz geschlossen. Doch die Sehnsucht nach der Heimat ist in Nikita groß.
Im März 2023 wird es für die Familie aus der Ukraine zurück in das heimische Odessa gehen. Wie aber bewertet der Jugendliche seine Zeit in Deutschland und welche Eindrücke nimmt er mit auf die Heimreise?
Nikita ist 16 Jahre alt. Mit der Mutter, der Oma und der Schwester ist er im März 2022 nach Deutschland gekommen – auf der Flucht vor dem Krieg. Zunächst ging es für die Familie nach Haldensleben, von dort aus nach Schwaneberg (Sülzetal). Erst vor 3 Monaten kamen die Ukrainer in Wanzleben an und wohnen seitdem dort. Nikitas Vater dagegen ist in seinem Heimatland geblieben, um es mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Der Kontakt zu ihm geschieht seither in unregelmäßigen Abständen über das Internet. Überhaupt ist die Datenautobahn der Weg, über den die Familie Kontakt zu Freunden, Verwandten und Bekannten hält. „Das Internet nutze ich jeden Tag“, bestätigt der 16-Jährige. Das hat seinen Grund, denn Zeit, um hier Freunde zu finden, hatte er bislang nicht wirklich. Außerdem hat er in Odessa eine Freundin, und über ihr Wohlergehen und das seiner anderen Freunde will er unterrichtet sein. Auch deshalb hat Nikita den Weg zum Deutschen Roten Kreuz in der Sarrestadt gesucht. Zum einen ist es für ihn die Möglichkeit, sich zu beschäftigen und zum anderen kann er dabei Gutes tun. „In Deutschland habe ich bis jetzt noch keine schlechten Erlebnisse gehabt. Alle Menschen waren freundlich und hilfsbereit zu mir und meiner Familie“, sagt er. Das findet er toll. Somit will er auch etwas zurückgeben an die Deutschen, die ihn so gut aufgenommen haben.
„Mit diesem Anliegen ist er natürlich völlig richtig bei uns“, äußert sich die Leiterin des Sozialen Zentrums „Alter Bahnhof“ des DRK Kreisverbandes Wanzleben, Barbara Schürmann. Der Verband deckt auch die Bereiche Kroppenstedt, Hadmersleben und Klein Oschersleben ab. Die Leiterin war ganz angetan, als die Anfrage des 16-Jährigen bei ihr ankam. „Wir können jede Hilfe gebrauchen“, sagt sie, zumal die Zahl der Bedürftigen hier in nur wenigen Monaten um 20 Prozent gestiegen ist (Volksstimme berichtete).
Der junge Ukrainer und das DRK haben also ganz schnell zueinandergefunden, und seitdem ist er auf jeden Fall zwei Mal in der Woche ehrenamtlich tätig. So hilft er bei Fahrten, der Abholung von Spenden und allgemein als Arbeiter im alten Bahnhof. Inzwischen hat ihn das Team, welches meist aus Ehrenamtlern besteht, fest ins Herz geschlossen. Nikita ist beliebt und er hat auch einen besonderen Ansprechpartner. Dabei handelt es sich um Vadim Miller. Der heute 62-Jährige stammt eigentlich aus Sibirien und hat lange Zeit in Kasachstan gelebt. Seit siebeneinhalb Jahren ist er wiederum Ehrenamtler beim DRK in Wanzleben. Er war mit seiner Familie seinerzeit direkt in die Sarrestadt gezogen. Seine zwei Töchter sind inzwischen in anderen Orten heimisch geworden und haben eigene Familien gegründet. In Wanzleben kümmert er sich um seine Schwiegereltern. Die Beziehung zu Nikita ist etwas ganz Besonderes für ihn, denn Vadim ist der vertraute ältere Freund für den jungen Ukrainer. Der Krieg ist kein großes Thema zwischen den beiden, denn sie lehnen Gewalt gegen Menschen grundsätzlich ab.
„Die augenblickliche Situation ist eine große Katastrophe für beide Länder", sagt der Kasache und der Ukrainer nickt dazu. Ihnen ist in Deutschland die Zusammenarbeit für das DRK wichtig, um Menschen helfen zu können. Dabei geht es nicht darum, wo jemand herkommt. Es zählt nur, wie Unterstützung in schweren Lagen geleistet werden kann. „Wir unterscheiden bei der Tafel nicht, wo jemand herkommt", bestätigt auch Barbara Schürmann. Im Alten Bahnhof sind zudem nicht nur Einheimische ehrenamtlich tätig. Es gebe eine gesunde Mischung von engagierten Leuten, die aus Deutschland, der Ukraine, Russland aber auch Syrien stammen.
Allerdings sind die Mitarbeiter inzwischen auch schon etwas traurig. Nikita hat ihnen mitgeteilt, dass sein Engagement wohl im März dieses Jahres enden wird. Er und seine Familie wollen zurückkehren nach Odessa. Das genaue Datum ist noch nicht ganz klar, aber in dem Monat ist die Rückkehr geplant. Das hat seinen Grund, denn die Familie besitzt ein Haus in der Hafenstadt, welches gerade von einer Verwandten betreut wird. Außerdem sehnen sich die Ukrainer nach der Heimat. „Heimat bleibt Heimat", sagt Nikita. Er will zudem in Odessa eine Lehrstelle antreten. Seemann will er werden. „Wenn man zehn Minuten vom Meer entfernt wohnt, dann ist das nur normal", sagt er augenzwinkernd. „Außerdem führen in Odessa alle großen Straßen zum Hafen."
Etwas schwerer wird es vielleicht für die Schwester. Sie besucht die dritte Klasse in einer Wanzleber Schule. Aber gibt es nicht vielleicht doch Bedenken bei der ukrainischen Familie? Nicht wirklich. Nikita muss nicht etwa an die Front, wenn er mit der Schule fertig ist. Er ist der einzige Sohn, und sein Vater verteidigt schon das Land. Nikita absolviert derzeit die neunte Klasse per Internet und bekommt Aufgaben von einem ukrainischen Lehrer. So wird es auch weitergehen, aber dann in der Heimat.
„Wir verstehen unseren Nikita sehr gut", sagt Barbara Schürmann. "Wir haben ihn lieb gewonnen und wollen ihn nicht mehr vermissen." Auch Vadim, der väterliche Freund lässt seinen Schützling ungern ziehen. „Er will einen ordentlichen Beruf lernen. Das ist gut", äußert er sich. „Dafür wünsche ich im alles Glück der Welt." Und Frieden, aber den wünschen sich wohl alle Mitarbeiter des DRK in Wanzleben.
Volksstimme, 26.01.2023 (Christian Besecke)